T. Fischer: Die Grenzen der Neutralität

Cover
Titel
Die Grenzen der Neutralität. Schweizerisches KSZE-Engagement und gescheiterte UNO-Beitrittspolitik im kalten Krieg 1969–1986


Autor(en)
Fischer, Thomas
Reihe
Schweizer Beiträge zur internationalen Geschichte – Contributions suisses à l'histoire internationale 7
Erschienen
Zürich 2004: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
492 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Trotz früherer Arbeiten (insbesondere von Hansjörg Renk und Christoph Breitenmoser, beide 1996) sind die Vorgänge um die KSZE erst teilweise erforscht. Unter erstmaligem, vollen Aktenbeizug legt nun Thomas Fischer mit seiner historisch-politologischen Dissertation zu der noch zu wenig bekannten schweizerischen KSZE-Politik und zu den bekannteren, parallel dazu laufenden Vorberatungen zum schweizerischen UNO-Beitritt eine wichtige Studie vor. Das Forschungsinteresse gilt aber weniger den beiden genannten Vorgängen selbst als den daran ablesbaren allgemeineren Haltungen zum Multilateralismus und ist auf die Frage ausgerichtet, ob und wie die Chancen genutzt wurden, die sich aus der internationalen Entspannung ergaben, um in der Schweiz ein neues aussenpolitisches Verständnis zu entwickeln. Der Verfasser lässt sich dabei von der von befragten Zeitzeugen bestätigten Grundannahme leiten, dass Détente reformfreundliche und internationale Polarisierung konservative Haltungen begünstigten.

Wie insbesondere die Ablehnung des UNO-Beitritts im Jahr 1986 zeigte, führte der Aufbruch von 1969 zu keinem entsprechenden Ergebnis. Der Autor erklärt dieses Scheitern mit zwei Ursachen: Einmal sei das Zeitfenster zu wenig lang offen gewesen, zum anderen habe man es auch zu wenig entschieden genutzt. Fischer geht davon aus, dass das aussenpolitische Rollenverständnis zumal von Kleinstaaten in hohem Mass durch die internationalen Rahmenbedingungen bestimmt ist. Es erstaunt nicht, dass die Studie wegen der bescheidenen Bedeutung der Schweiz und der Beschränkung auf schweizerische Quellen kaum akzentuierte Rollenerwartungen der Aussenwelt aufzeigen kann und einmal mehr die helvetische Selbstverständigung dominiert. Es geht also um das Problem, wie angesichts der Veränderungen in der Welt der selbst entwickelte Wunsch nach einer generelleren Öffnung und nach der Übernahme einer aktiveren Rolle in den internationalen Beziehungen im eigenen Land ankam und in dauerhaften Haltungen verankert werden konnte.

Wie der Verfasser richtig bemerkt, wäre das nur möglich gewesen, wenn sich gleichzeitig die «stark innenpolitisch geprägte nationale Identität der neutralen Schweiz» verändert hätte. Daraus kann man, ja muss man schliessen, dass die Vorgänge auf der internationalen Ebene nur Möglichkeiten schufen, eben windows of opportunities, dass aber deren Nutzung eine eminent innenpolitische Sache gewesen wäre und darum mindestens so sehr die innenpolitischen oder gesellschaftspolitischen Konstellationen und Konjunkturen in die Analyse einbezogen werden müssten. Diese Dimension wird in der vorliegenden Abhandlung da kurz berührt, wo von der «68er»-Position etwa eines Thomas Held in der Konsultativkommission von 1975 zur Frage des UNO-Beitritts die Rede ist.

Die Studie wirft am Rande einen interessanten Blick auf die Haltung der Wirtschaftsvertreter, die sich in den 1970er Jahren mit dem stärkeren Engagement gegenüber der UNO «nicht identifizieren» konnten, und sie zeigt einen eigentlichen Gegensatz zwischen den beiden Departementen für Aussenpolitik und für Aussenwirtschaft auf. Seit 1978 meldete das EVD starke Vorbehalte gegen die Priorisierung der UNO-Beitrittsvorlagen; es hätte es vorgezogen, wenn man zuerst den Beitritt zu den Bretton Woods-Institutionen (IMF) angestrebt hätte, wie er dann 1992 zustande kommen sollte. Und 1980 musste Bundesrat Aubert seinen Chefdiplomaten Brunner ins Bundeshaus Ost schicken, um dort Bundesrat Honegger für die Zustimmung zur Teilnahme an der Nachfolgekonferenz von Madrid zu gewinnen.

Dank der erstmaligen Auswertung der Handakten kann Fischer ein konsolidiertes Bild der in der Zeit selbst stark umstrittenen Politik von Bundesrat Aubert zeichnen. Aubert meinte mit seiner Parole von der «Dynamisierung der Aussenpolitik », dass die Schweiz ihr politisches Tempo der beschleunigten Entwicklung der Welt anpassen und «etwas mehr Schwung» gewinnen müsse. Einen neuen inhaltlichen Akzent setzte Aubert mit der Ausweitung der schweizerischen Menschenrechtspolitik. Dabei geriet er – mindestens konzeptionell – in Konflikt mit dem traditionellen Neutralitätsverständnis, vertrat er doch die Auffassung, dass es in menschenrechtlichen Belangen keine Neutralität geben könne.

Die Gegenposition wurde von einzelnen Chefbeamten – etwa Albert Weitnauer und Emanuel Diez und von manchen Parlamentariern vertreten. Der vorzeitigen Entlassung Weitnauers sind in dieser Arbeit selbstverständlich ebenfalls ein paar Seiten gewidmet. Desgleichen naheliegenderweise auch der Frage, in welchem Masse Aubert für das massive Nein zur UNO-Mitgliedschaft im März 1986 verantwortlich war. Der Autor sieht in Auberts eher schwachen Auftritten nur eine von vielen Ursachen.

Die in mancher Hinsicht sehr aufschlussreiche Publikation meint mit dem Buchtitel nicht die enge Begrenztheit der Neutralität, sondern im Gegenteil, dass wegen des sehr breit angelegten Neutralitätsverständnisses dem aussenpolitischen Handeln auch in der Phase des Aufbruchs über Gebühr enge Grenzen gesetzt gewesen seien. Die Studie referiert auch eine speziell interessante Episode aus dem Jahr 1985: SVP-Nationalrat Peter Sager störte sich daran, dass die Neutralität nach eigenen Worten «ein Mythos geworden» sei, und wollte der mythischen Unbestimmtheit begegnen, indem er 50 Thesen zur Neutralität entwickelte. Er stiess damit in der aussenpolitischen Kommission auch bei der Linken auf Zustimmung. SP-Nationalrat Heinrich Ott meinte, der Neutralität eine «zusätzliche Dimension» abgewinnen zu können und landete mit seiner Formel der «erweiterten Guten Dienste» doch nur wieder bei der alten Begrifflichkeit und beim alten Rollenverständnis. Thomas Fischer sieht in diesem Fall einen exemplarischen Beleg für die auch in den Aufbruchsjahren gleich gebliebene «aussenpolitische Identitätsstiftung traditioneller Prägung».

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Thomas Fischer: Die Grenzen der Neutralität. Schweizerisches KSZE-Engagement und gescheiterte UNO-Beitrittspolitik im kalten Krieg 1969–1986. Zürich, Chronos, 2004. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 3, 2005, S. 352-354.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 55 Nr. 3, 2005, S. 352-354.

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